Mehr als eine Gerechtigkeitslücke
1. Zum derzeitigen Stand
Die Frage der sozialen Gerechtigkeit bei Berufskrankheiten ist für uns mehr als eine Gerechtigkeitslücke. Die derzeitige öffentliche Diskussion über die Position der Sozial- und Gesundheitspolitik und die erforderlichen Einsparungen in diesem Bereich sollte Themen besonderer Ungerechtigkeiten nicht ausklammern und zu ausgewogeneren und effektiveren Lösungen führen.
Die Mechanismen der Entstehung von Berufskrankheiten sind nach der Auffassung des dbu in der gegenwärtigen Interpretation der MAK-Werte-Kommission und der Arbeitsmedizin nur unzureichend erkannt und berücksichtigt. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind für die Betroffenen in den Sozialgerichtsverfahren ungünstig und machen es häufig unwahrscheinlich berechtigte Rechtsansprüche auch durchzusetzen.
Foto: Prof. Dr. med. W. HUBER, Arzt für Innere Medizin, Nephrologie und Umweltmedizin
Im Unfallversicherungsrecht gilt, anders als in anderen Bereichen der Sozialversicherung, das Kausalitätsprinzip. Die Beweislast obliegt den Versicherten und sie müssen nachweisen, dass besondere Einwirkungen die geltend gemachte Berufskrankheit verursacht haben.
Zusätzlich ist der Nachweis zu führen, dass bestimmte Gruppen von Beschäftigten in erheblich höherem Grad belastet wurden als die übrige Bevölkerung. Erschwerend kommt hinzu, dass die erkrankte Person diese schwierigen, sozialrechtlich relevanten Aufgaben zu einem Zeitpunkt schlechter körperlicher, oft auch geistiger Verfassung und in einer Situation gro?xer sozialer Unsicherheit erfüllen soll. Die Beweiserhebung erfolgt zudem oftmals erst Jahre nach der verursachenden Schädigung, wodurch klassische toxikologische Methodik in der Regel unbrauchbar ist.
Mängel sind unserer Meinung nach auf der medizinisch-wissenschaftlichen, der sozialrechtlichen sowie der juristischen Ebene feststellbar.
1.1. Probleme auf medizinischer bzw. wissenschaftlicher Ebene (Schwierigkeiten der Analytik)
Die Analytik organischer Lösemittel im Blut ist au?xerordentlich problembehaftet und nur innerhalb weniger Stunden nach erfolgter Exposition möglich. Auch dabei müssen besondere Bedingungen bei der Blutabnahme strikt beachtet werden, wenn sinnvolle Resultate erzielt werden sollen. Insofern ist eine vernünftige Analytik nur dann möglich, wenn Betroffene noch am Arbeitsplatz tätig sind. Dies ist in der Regel nicht der Fall. Zum Zeitpunkt der Begutachtung ist die Berufstätigkeit zumeist seit längerer Zeit, oftmals seit Jahren, eingestellt. Es werden oft Jahre nach der Exposition keine auffälligen Daten mehr erhoben. Die Vorstellung, es habe niemals eine krankheitsinduzierende Belastung mit solchen Substanzen vorgelegen, ist demnach falsch. Eine solche Methodik wird bisher nicht eingesetzt und kann aufgrund des au?xerordentlich hohen Aufwands selbst bei wissenschaftlichen Gutachten kaum genutzt werden.
1.2. Einschätzung des technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Berufsgenossenschaften
Zuverlässige Analysen aus der ?Sberwachung am Arbeitsplatz im Sinne eines Bio- bzw. Ambiente-Monitoring liegen nur sehr begrenzt vor. Erst wenn ein Verfahren in Gang gekommen ist, werden die entsprechenden Arbeitsplätze durch den TAD besichtigt. Dieser kommt dabei immer zu dem Ergebnis, dass nicht davon auszugehen sei, dass zulässige Grenzwerte am Arbeitsplatz überschritten worden waren. Diese völlig subjektive und nicht belegte Einschätzung spielt in dem weiteren juristischen Verfahren dann allerdings eine entscheidende Rolle.
1.3. Rechtliche und sozialrechtliche Rahmenbedingungen (Beweispflicht)
Hinsichtlich einer erfolgten Schädigung ist die geschädigte Person beweispflichtig. Dies setzt voraus, dass ein Recht besteht Beweismittel zu erheben. Tatsächlich haben die Geschädigten keinerlei Recht, dass es erlauben würde am Arbeitsplatz Messdaten zu erheben. Der Arbeitgeber ist Hausherr und kann jegliche Untersuchungsma?xnahme ablehnen. Dies geht soweit, dass entsprechende Daten, wenn sie von ärztlicher Seite ohne Wissen und Zustimmung des Arbeitgebers erhoben worden sind, selbst dann vor Gericht keine Beachtung finden, wenn sie grobe Abweichungen zeigen. Allein aufgrund dieses Sachverhalts entsteht eine erhebliche Beweisnot, die in der Regel durch die oben dargestellten subjektiven Einschätzungen des TAD noch verschärft wird.
1.4. Nachweis der Kausalität
Obwohl ansonsten im Sozialrecht erleichterte Beweisanforderungen ("überwiegende oder hinreichende Wahrscheinlichkeit" statt "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit") gelten, müssen Geschädigte im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität (Exposition gegenüber bestimmten Stoffen und das Vorliegen einer entschädigungspflichtigen Listen-Berufskrankheit) ihre Gesundheitsschädigung durch Vollbeweis nachweisen. Das sind hohe Anforderungen, die sonst nur im Zivilrecht üblich sind.
Lediglich für die haftungsausfüllende Kausalität (beruflich bedingte Schädigung) soll ein vereinfachter Nachweis ("überwiegende Wahrscheinlichkeit") ausreichen. Die Rechtspraxis zeigt aber, dass auch hier generell weit überhöhte Beweisanforderungen gestellt werden, und zwar regelmä?xig zu Lasten der Geschädigten.
Schon der Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität ist bei unklarer Expositionslage, erst recht Jahre oder sogar Jahrzehnte im Nachhinein, in der Praxis schwierig.
Im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität muss der Geschädigte regelmä?xig die ?Sberschreitung der MAK-Werte nachweisen bzw. wahrscheinlich machen.
Auch die in der Praxis erfolgenden Enmittlungen der Exposition und deren Höhe durch den TAD (Technischer Aufsichtsdienst der Berufsgenossenschaften) sind dabei häufig unergiebig. Ohne fundierte Verfahrensführung ist ein Geschädigter schon hier regelmä?xig chancenlos.
Zusätzlich ergibt sich unter diesem Aspekt die Problematik konkurrierender Kausalität. Die berufliche Einwirkung muss wenigstens gleichwertige, besser aber wesentliche Teilursache für die Schädigung sein. Als elegenheitsursache hat sie kaum eine Chance auf Berücksichtigung. In der Praxis bedeutet dies, dass eine Person, die gelegentlich Alkohol konsumiert und gegen-über Lösemitteln im Beruf täglich und erheblich ausgesetzt war, kaum eine Chance hat, diese als Berufskrankheit anerkannt zu bekommen, da dem sporadischen Alkoholkonsum immer die höhere Wertigkeit eingeräumt wird.
1.5. Monopolisierung des Anspruchs auf Begutachtung - Auswahl von Gutachtern
Die Gutachterauswahl wird grundsätzlich vom Gericht getroffen. Klagende und beklagte Partei haben prinzipiell gleiches Recht einen Gutachter vorzuschlagen. In der Praxis trifft dieser Sachverhalt nie zu. Das Gericht folgt so gut wie in allen Fällen dem Vorschlag der Beklagten (BG). Versucht sich der Kläger dem zu widersetzen, wird ihm von Haus aus ein Mangel an Mitarbeit unterstellt. Befangenheitsanträge gegenüber Gutachtern haben nicht einmal dann eine Chance, wenn diesen bereits aktenkundig eine mangelhafte Qualität ihrer Gutachten bescheinigt worden ist. Erschwert wird diese Situation noch dadurch, dass die Beklagte aufgrund ihrer guten finanziellen Möglichkeiten unbegrenzt in der Lage ist, Gutachter zu benennen. Hierdurch entsteht gegenüber dem Gericht ein derma?xen gro?xes ?Sbergewicht der eigenen Positionen, dass Klagen kaum Aussicht auf Erfolg haben können.
Erst am Ende des Verfahrens ist es dem Kläger möglich, nach § 109 SGG zu eigenen Lasten einen eigenen Gutachter zu benennen. Zu diesem Zeitpunkt sind die finanziellen Möglichkeiten meist ausgeschöpft, die familiäre und die soziale Situation ist soweit geschädigt, dass die Wenigsten hierzu überhaupt noch in der Lage sind. Kommt es dennoch zu einer Begutachtung nach § 109 SGG, werden diese Gutachter - bereits unter 1.4 diskriminiert - als Au?xenseiter bezeichnet, die nicht schulmedizinisch tätig seien.
1.6. Die Rolle der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV)
Erstaunlich unentschlossen ist in dieser Thematik die Position der GKV. Es sollte erwartet werden können, dass die Bemühungen, Zusammenhänge zu Berufskrankheiten aufzudecken und sie justiziabel zu machen, die Unterstützung der GKV fände. Zwei Gründe sprechen dafür, dass die Versicherungen sich stärker als bisher engagieren:
- Hohe Kosten fallen bisher aufgrund der ungenügenden ärztlichen, wissenschaftlichen und rechtlichen Handhabe der Berufskrankheiten bei den GKV an. Nur selten werden die Berufsgenossenschaften als Kostenträger ermittelt.
- Soll eine wirksame Prävention an Arbeitsplätzen erreicht werden, muss die Entstehung von Berufskrankheiten vorbehaltlos aufgedeckt werden. Die präventiven Ma?xnahmen garantieren die Gesundheit von Arbeitnehmern und mindern gleichzeitig die unnötig hohen Kosten, die sich durch Arbeitsausfall und die Betreuung der Betroffenen ergeben.
Trotz immer wieder geführter Gespräche auf diesem Sektor haben sich die GKV bisher zu keiner einheitlichen Strategie entschlie?xen können. Mit ihrem Verhalten behindern sie hingegen die Arbeit kritischer Gutachter zusätzlich.
1.7. Monopolisierung des Anspruchs auf Begutachtung
Da sich durch die zunehmende Qualität der kritischen Gutachter trotz der zuvor genannten Schwierigkeiten immer grö?xere Probleme in der gerichtlichen Auseinandersetzung ergeben hatten, versuchte man diesen Schwierigkeiten damit zu begegnen, dass man eine Monopolisierung des Gutachterwesens von Seiten der arbeitsmedizinischen Institute geltend machte. Damit soll erreicht werden, dass die ausschlie?xlich auf toxikologischer Betrachtungsweise resultierenden Beurteilungen dieser Disziplin weiterhin ausschlie?xlich zur Geltung kommen, dass genetische Polymorphismen (Verschiedenartigkeit der Entgiftungsfunktionen) sowie immunologische Interaktionen und die Wirkung komplexer Gemische möglichst keine Berücksichtigung finden.
2. Beispiele an Erkrankungen
Die eingangs nachhaltig vorgetragene Position "Mehr als eine Gerechtigkeitslücke" möchten wir an zwei Erkrankungen verdeutlichen:
- an der toxischen Encephalopathie
- am MCS-Syndrom
2.1. Zur toxischen Encephalopathie
1996 hatte Herr Minister a. D. Herr Dr. Blüm die Empfehlung gegeben, für alle Berufe eine anerkannte Berufskrankheit einzuführen, bei denen Kontakt mit Lösemitteln und anderen flüchtigen organischen Chemikalien besteht. Ein Jahr später wurde dementsprechend die Berufskrankheit Nr. 1317 in die Liste aufgenommen. Damit war die Voraussetzung geschaffen worden, Beschäftigte der Sparten Maler, Lackierer, Kfz-Mechaniker, Tankwarte, Drucker, Arbeiterinnen in Schuhfabriken, Metallverarbeitung, Teppichverlegung und chemische Reinigung u. a. angemessen zu entschädigen, wenn sie in Folge chronischer Exposition gegenüber den genannten Chemikalien an Schäden des peripheren und/oder zentralen Nervensystems erkrankt waren. Dieser wissenschaftlich wohl begründete Schritt wurde von allen ?rzten begrü?xt, die entsprechend Erkrankte zu betreuen hatten.
Umso mehr überraschte es in den folgenden Jahren, dass es nur zu einer geringen Zahl der Anerkennung entsprechender Berufskrankheiten kam, obwohl viele Menschen in diesen Berufen tätig waren und sind und obwohl eine nennenswerte Zahl an Meldungen von Verdachtsfällen einging. In einer Fragestunde des deutschen Bundestages am 24.03.2004 wird hierzu festgestellt, dass in den Jahren 2000 18 Fälle, 2001 15 Fälle und 2002 10 Fälle als Berufskrankheiten anerkannt wurden. Dieses offenkundige Missverhältnis zwischen der Zahl der Beschäftigten und den damit gegenüber diesen Chemikalien-Exponierten, den gemeldeten Verdachtsfällen und der geringen Zahl der Anerkennung als Berufskrankheit war für Herrn Minister a. D. Blüm Anlass, vor mehreren Monaten in einer öffentlichen Mitteilung hierzu deutlich Stellung zu nehmen.
2.1.1. Zur Langzeitspeicherung von lipophilen Substanzen
DE BIASI, KOCHEN (2001) schreiben zur Langzeitspeicherung von lipophilen Substanzen:
"Die Existenz 'tiefer' Kompartimente, in denen eine Langzeitspeicherung von Lösungsmitteln statffinden kann, konnte mit dem Kompartimant-Modell (...) erklärt werden. Daraus ergab sich aber die Frage, wie diese 'tiefen' Kompartimente aufgebaut sein könnten. Als potentieller Lösungsmittelspeicher bietet sich das Fettgewebe an. Ein Erwachsener (70 kg) besitzt durchschnittlich 8 kg Fettgewebe (Junqueira et al, 1991). Das Fettgewebe ist somit das grö?xte Speicherorgan des tierischen Organismus und deshalb auch für die Einlagerung von lipophilen, organischen Lösungsmittel geeignet. Dies konnte mit in vitro Versuchen an Ratten unter Beweis gestellt werden (Chen et al, 1993). Den Ratten wurde über einen Herzkatheter Perchlorethylen appliziert. Anschlie?xend wurden die Tiere nach einer Stunde Inkubationszeit getötet, um die Verteilung von Perchlorethylen in den verschiedenen Gewebetypen zu bestimmen. Dabei konnte festgestellt werden, dass es im Vergleich zum Blut zu einer Anreicherung von Perchlorethylen im Fettgewebe um den Faktor 37 gekommen war. Da das Fettgewebe aber nur mä?xig durchblutet wird, ist eine mögliche Nachreicherung von Lösungsmitteln durch die hohen Fett/ Blut-Verteilungskoeffizienten allein nicht erklärbar. Die geringe Durchblutung des Fettgewebes und dessen gro?xe Kapazität für fettlösliche Lösungsmittel lassen aber zumindest eine nicht ausgeschöpfte Speicherkapazität erwarten."
Die Langzeitspeicherung von lipophilen Substanzen bedeutet eine endogene Reexposition. Ein anderer als der bei der Ratte beschriebene Pathomechanismus ist auch beim Menschen nicht zu erwarten.
Es gibt keine festgelegten Kriterien, in welcher Zeit die Besserung stattzufinden hat. Selbst wenn keine Remission, sondern Persistenz besteht, würde das nicht gegen die BK Nr. 1317 sprechen, wie sie die neuere Literatur aufweist.
Selbst die Analyse fettlöslicher chlorierter Kohlenwasserstoffe, die eine hohe Halbwertszeit besitzen (z. B. Dioxine, Phorane, PCB) ist in der Regel nur noch begrenzt nutzbar.
2.2. Zum MCS-Syndrom
Es wundert nicht, dass die Multiple Chemikalien Sensitivität (MCS) nach wie vor als psychosomatische oder somatoforme Krankheit, teilweise auch als paranoide Erkrankung eingestuft wird, obwohl in der entsprechenden Studie des Umweltbundesamtes (2002) für diese Annahme kein Anhalt gefunden wurde.
Die in der Literatur längst vorhandenen Hinweise der entzündlichen Genese dieser Krankheit werden ebenso ignoriert, wie die Bedeutung der fehlenden Kompensation von freien Radikalen.
Die Darstellung des wissenschaftlichen Kenntnisstandes aus arbeitsmedizinischer und umweltmedizinischer Sicht ist folgender: (NASTERLACK et al, 2002).
Die Autoren formulieren:
"Zur ?thiologie und Pathogenese der Störung liegen zahlreiche Hypothesen aber keine gesicherten Erkenntnisse vor. Bislang existieren keine allgemein akzeptierten diagnostischen Tests hinsichtlich physiologischer oder biochemischer Parameter, die mit den angegebenen Symptomen korrelieren. Die Bezeichnung eines Beschwerdebildes als MCS hat daher rein deskriptiven Charakter."
"Eine Anerkennung von MCS als Berufskrankheit ist angesichts des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben nicht möglich. Dessen ungeachtet kann das Vorliegen einer MCS Symptomatik in übrigen Sozialversicherungsbereichen berücksichtigt werden."
"Besonders zu erwähnen ist das Biomonitoring. Als Parameter werden in der Regel chlororganische Verbindungen, Pestizide, Lösungsmittel, Schwermetalle und andere mehr bestimmt. Durch eine ungerechtfertigte Gleichsetzung von Referenzwerten mit (toxikologisch begründeten) Grenzwerten wird den Betroffenen schon bei geringen ?Sberschreitungen der statistischen Hintergrundbelastung suggeriert, dass ihre Beschwerden auf die gemessene Belastung zurückzuführen seien. Eine wissenschaftliche Basis für solche Aussagen fehlt."
MCS ist teilweise eine multiple Immunerkrankung und wird durch Bestimmung des Immunstatus objektiviert und in ihrem Verlauf eingestuft.
Die Immunstati erlauben ein Monitoring des Verlaufs. Trotz aller individuellen Unterschiede (keine zwei Patienten sind gleich) lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden:
- erhöhte Alarmbereitschaft ohne Beschwerden (Latenzphase),
- erhöhte Alarmbereitschaft mit entzündlichen Prozessen (Sensibilisierung),
- schwere Schädigung bis hin zur vollständigen Lebensunfähigkeit ohne besonderen Schutz (Isolation).
Immunologisch ist die Sensibilisierungsphase durch erhöhte CD4-Population und erniedrigte CD8-Population gekennzeichnet. Später sinken die Populationen insgesamt. Bei der Mehrzahl der MCS-Patienten sind alle Lymphozytenpopulationen erniedrigt. Allerdings bleibt das CD4/CD8-Verhältnis pathologisch erhöht. Das Immunsystem ist insgesamt stark beschädigt mit besonders verringerter Kapazität zur anti-inflammatorischen Gegenabwehr.
Am Immunstatus der Patienten kann man exakt ablesen, dass sich der Patient in einer solchen Phase der (zunehmenden) Sensibilisierung befinden.
Bei der Interpretation der Immunstati sind die Parameter insgesamt zu auszuwerten. Aktuelle Entzündungen, chronische Entzündungen und chronische Entzündungsbereitschaft sind differential-diagnostisch identifizierbar. (MAYER et al, 2002)
Der Entzündungsprozess wird als eine erhöhte Mediatorfreisetzung (innere Reizung als Folge der äu?xeren Reizung), mit der Folge der Aktivierung von Monozyten, Neutrophilen und Eosinophilen (Entzündungszellen) gesehen.
2.2.1. Entzündungssyndrom und dessen gemeinsamer Nenner:
Entzündungsvorgänge, wie z.B. bei Verletzungen, Arthritis, Intoxikationen und Infektionen, sind erkennbar an den äu?xeren Symptomen wie Schwellungen, erhöhte Temperatur, Rötung und Schmerz. Sie sind die Antwort auf Reize, welche ausgelöst werden durch traumatische Einwirkung, infektiöse Erreger, Toxine und Auslöser von Immunreaktionen.
Demgegenüber sind systemische Entzündungen jedoch nicht auf das Gewebe beschränkt. Sie verlaufen anders als lokale Entzündungen. Während letztere mit Schwellung, erhöhter Temperatur, Rötung und Schmerz assoziiert sind, gibt es keine spezifische Diagnostik für Sepsis. Es können sowohl Hyperthermie sowie Hypothermie, Hypertonie, Hypotonie, Leukozytose wie auch Leukopenie, Tachypnoe und Tachykardie auftreten. (HARRISON, 1999) Schmerzen (Kopf, Gelenke, Muskeln) können, müssen aber nicht auftreten.
Klinisch steht rasche Ermüdbarkeit; Schwäche und chronische Müdigkeit im Vordergrund.
Ort des Geschehens sind die Mitochondrien. Das Entzündungssyndrom ist erkennbar durch Indikatoren des Oxidativen Stress, der erhöhten Plasmaspiegel an Homocystein, Malondialdehyd, C-reaktives Protein.
Die Belastungen durch chlororganische Schadstoffe, PCP, PCB, HCB, DDT und DDE sind assoziiert mit vermehrten Entzündungsprozessesen (reduzierte invitro-Lymphozytenstimulation, Verminderung der Absolutzellzahlen der erschiedenen Lymphozytensubpopulationen, Zytokinerhöhungen, Erhöhung der Autoantikörper).
Es bestehen Parallelen in den immunologischen Veränderungen der Entzündungsprozesse bei chronisch internistischen und bei Entzündungsprozessen durch Chemikalien.
2.2.2. Zur Objektivierung der Behinderung - Objektivierungsanforderungen bei MCS?
Es ist nicht einsehbar, warum bei MCS die Kriterien der labordiagnostischen Objektivierung nicht respektiert werden, während bei in der Diagnostik und Beurteilung des Leistungsminderung vergleichbar schwieriger Erkrankungen (chronische Schmerzen oder Tinnitus) die fachkundige Befragung durch die Arzt sowie die glaubhafte (!) Beschwerdeschilderung genügen sollen.
Hier wird offenkundig mit zweierlei Ma?x gemessen.
3. Erkrankungen am gleichen Arbeitsplatz
Wenn gleichzeitig im Berufskrankheitenrecht selbst in schwersten Schädigungsfallen, in denen sogar Dutzende von anderen Arbeitnehmern am gleichen Arbeitsplatz in der gleichen Firma an schweren Krebserkrankungen erkrankt und gestorben sind, das Vorliegen einer beruflich bedingten Erkrankung abgelehnt wird, wird damit eine fatale Dimension konsequenter Falschbegutachtungen für die Gesamtgesellschaft deutlich, die letztlich von niemand ernsthaft gewollt werden kann.
4. Feste Dosis-Wirkung nicht haltbar
Gerade neuartige Erkrankungsformen wie z.B. chronische Intoxikationen im Niedrigdosis-Bereich, Multiple Chemical Sensitivity etc. rütteln aber auch "an den Fundamenten unserer fortschrittsgläubigen Gesellschaft", weil das bisherige lineare Sicherheitsdenken ("feste Dosis-Wirkungs-Beziehungen") nicht mehr länger haltbar ist. Wenn aber bereits niedrige Belastungen, die (noch) für viele nicht zu akuten Schädigungen führen, gleichwohl schwerwiegende Schädigungswirkungen jedenfalls für einen Teil der Menschen haben, weist dieses auf grundsätzliche Missverständnisse in der wissenschaftlichen Gefährdungs-Bewertung hin.
Nicht zuletzt bleibt zu sagen: Bitte mehr Achtung vor dem Einzelnen! Ein mehr an Gerechtigkeit sollte au?xerdem zu einer Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen führen.
Wir haben versucht, in dieser Zusammenfassung die grundsätzlichen Probleme bei der Beurteilung von Berufskrankheiten darzustellen, die bei der Einschätzung der Berufskrankheiten durch organische Lösemittel (BK Nr. 1317) und beim MCS-Syndrom ihre besondere Zuspitzung erfahren.
5.Vorschläge:
- Die bisherige Bewertung von Einzelstoffbetrachtungen ist durch die Berücksichtigung additiver und synergistischer Wirkungen zu erweitern. Dieses rüttelt am inzwischen völlig antiquierten Listen-Berufskrankheitenrecht, welches monokausale Schädigungsfälle unterstellt und Multikausalität nicht einmal ansatzweise adäquat erfasst.
- Beweiserleichterungen bis zur Beweislastumkehr, erst recht wenn Arbeitgeber und Berufsgenossenschaften Expositionen und deren Höhe nicht ausreichend dokumentiert oder rechtzeitig aufgeklärt haben, ähnlich wie dieses dann sogar auch im Zivilrecht üblich wäre.
- Entflechtung institutioneller Strukturen (Berufsgenossenschaften und Beratungsärzte/ Gutachter), die sich systematisch zu Lasten der Geschädigten auswirken, selbst wenn medizinische Begutachtungsinstitute, die häufig nur scheinbar unabhängig sind, beauftragt werden.
- Aufbau einer unabhängigen Toxikologie und Arbeitsmedizin, die ihrem wissenschaftlichen Anspruch auch tatsächlich gerecht wird (z.B. nur: Multikausalität statt blo?xe Monokausalität!)
- Ein eigenes Vorschlagsrecht für Geschädigte über § 109 SGG hinaus auch schon im au?xergerichtlichen Bereich.
- Neufassung der rechtlich viel zu restriktiv gehandhabten Härtefallregelung in
§ 9 Abs. 2. SGB VII. - Da heute nur ein sehr geringer Anteil der beruflich bedingten Erkrankungen überhaupt entschädigt wird, ist rechtlich sicherzustellen, dass nicht nur Listen-Berufskrankheiten, sondern alle beruflich bedingten Erkrankungen sozialrechtlich zu entschädigen sind.
Prof. Dr. med. W. Huber
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