Einleitung
Beim Immunsystem handelt es sich um funktionell verschiedenartige, miteinander bedarfsabhängig kooperierende Einheiten, deren entscheidende Aufgabe es ist, die Integrität des Organismus zu wahren. Die Lern- und Merkfähigkeit ist ein wesentliches Element in diesem Prozess und Voraussetzung für die Adaptation an neue, bislang nicht erfahrene Geschehnisse.
Entwicklungsgeschichtlich sind die einzelnen Bestandteile des Immunsystems unterschiedlich alt und ihre Arbeitsweise ist sehr verschieden differenziert und spezialisiert. Grundsätzlich ist festzustellen, dass das Immunsystem ursprünglich im Umgang mit Parasiten und Bakterien geübt ist. Die bislang entwickelten Mechanismen sind deshalb durch diesen Kontakt ganz wesentlich konditioniert. Bereits gegenüber Viren besitzt das Immunsystem noch nicht einen gleichwertigen Entwicklungsstand. Nicht vergleichbar sind die Leistungsmöglichkeiten gegenüber nicht physiologisch vorkommenden chemischen Substanzen der jüngsten Zeit, die in einem entwicklungsgeschichtlich sehr kurzen Zeitraum in ungewöhnlich gro?xer Vielfalt die in einer langen Entwicklungskaskade etablierten Mechanismen beanspruchen. Wenn von Immunleistung gesprochen wird, wird entsprechend nach wie vor im wesentlichen hierunter die immunologische Leistungsfähigkeit zur Wahrung der von au?xen durch Keime und Parasiten oder durch innere Mechanismen (z.B. Autoimmunität) gefährdeten Integrität des Organismus verstanden. Zu wenig Beachtung hat bislang gefunden, dass das Immunsystem sich auch an der Kommunikation endokriner und neurologischer Informationen beteiligt. Als wesentliche Vermittler der Information konnten zwischenzeitlich eine Vielzahl von Zytokinen identifiziert werden. Das Muster ihrer Expressionen unterliegt physiologischerweise festen Regeln und begrenztem quantitativem und qualitativem Vorkommen. Die Forschung der jüngsten Zeit belegt, dass die chronische Einwirkung von Chemikalien im Niedrigdosisbereich eine Modulation der Zytokinexpression bedingen kann. Kurzfristige ?nderungen werden in der Regel gut und ohne wesentliche Folgen kompensiert. Wenn dieser Mechanismus allerdings langfristig und in der Regel über Jahre einwirkt, ergeben sich hieraus Konsequenzen für das immunologische Verhalten.
Interleukin-2
Das Kontaktekzem war die erste Erkrankung, bei der nachgewiesen werden konnte, dass ein Erkrankungsprozess durch die dominierende Bildung eines einzelnen Zytokins zur Auslösung und Chronizität von Krankheit - in diesem Fall zu einem Ekzem - führt. Die einseitige Expression von Interleukin-2 (IL-2) induziert das beständige Klonen sensibilisierter, zuvor naiver T-Lymphozyten. In der Regel ist dieser Prozess auf den Einwirkungstort der exogenen Note begrenzt. Problematischer wird die Situation dann, wenn es zu einem Ausschwemmen von T-Zellen und/oder Zytokinen kommt, die in ganzen Systemen zu Steuerungsstörungen führen kann, wie es bei dem hämatogen gestreuten Kontaktekzem letztendlich auch der Fall ist. Erfolgt die Antigenpräsentation nicht über die Epidermis sondern inhalativ oder enteral, können sehr variable klinische Bilder entstehen, die in ihrem pathogenetischen Zusammenhang über eine Epikutantestung nicht zuverlässig abgeklärt werden können.
Der Lymphozyten-Transformationstest (LTT) ist hier die genauere Methode. So wurden hier zelluläre Sensibilisierungen auf Metalle, insbesondere Aluminium, im Zusammenhang mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und Guillain-Barré-Syndrom (GBS) beschrieben.
Autoimmunität
Die Induktion von Autoimmunität durch Fremdstoffe ist ein allgemein anerkanntes Krankheitsprinzip, das insbesondere bei zahlreichen neurologischen Krankheiten wie ALS, Encephalitis disseminata (E.d.) Miller-Fisher-Syndrom und GBS bekannt ist. Es ist nicht davon auszugehen, dass der immunologische Mechanismus durch unterschiedliche Noxen gleicherma?xen ausgelöst werden kann. Schwermetalle besitzen aufgrund ihrer hohen Speicherfähigkeit bei chronischer Zufuhr allerdings ein besonders hohes Potential, als Auslöser in Frage zu kommen, da sie einerseits strukturelle ?nderungen besonders der S-hydril-Gruppen enthaltenden Proteine sowie der sowie Antigenbereitstellung im Golgi-Apparat bzw. der Antigenpräsentation an der Zelloberfläche bedingen können. Arzneimittel und Chemikalien vielfältiger Art, aber auch Viruserreger wurden als Auslöser ebenfalls identifiziert.
Zelladhäsionsmoleküle
Etwa 40 Zytokine sind für die Induktion von Zelladhäsionsmolekülen verantwortlich. Dieser Mechanismus reguliert die Gefä?xweite, Endotheldicke und Inflammation an der Oberfläche des Endothels. Damit wird die Rheologie der Gefä?xe ebenso beeinflu?xt, wie die Diffusion in die umliegenden Gewebe. Auch in diesem Zusammenhang konnten ?nderungen der physiologischen Funktion an der Endotheloberfläche durch fremdstoffinduzierte Modulation der Zelladhäsionsmoleküle berichtet werden. Besonders auffällig sind auch in diesem Zusammenhang die nicht physiologisch im Körper verwendeten Metalle, die eine gro?xe Beeinflussung dieses Regelkreises zeigen. Auswirkungen ergeben sich sowohl für das kardiovaskuläre System als auch für die Austauschsituation im Gehirn. Diese kann durch entsprechende Reaktionsmechanismen stark noxenabhängig auch in kurzer Zeit verändert werden, wodurch insbesondere die kognitive Hirnleistung direkt beeinflusst werden kann. Inwieweit dieser Mechanismus die eigentliche Voraussetzung für thromboembolische Prozesse oder Infarkte ist, bedarf der dringenden Evaluierung. Es ist nicht auszuschlie?xen, dass das Multiinfarkt-Syndrom des Gehirns hier seinen pathologischen Anfang nimmt. Autoimmunität gegen Cardiolipin und /oder Phosphatidylserin kann das Risiko zusätzlich erhöhen. Auch das Auftreten dieser Autoantikörper wurde in jüngster Zeit im Zusammenhang mit der chronischen Exposition gegenüber verschiedenen Noxen wie Lösemitteln und Schwermetallen gefunden.
Interferon-?
Von gro?xer Bedeutung scheint die dominierende Freisetzung von Interferon-? (IFN-?) zu sein, die die immunologische spezifische, substanzbezogene Antwort unspezifisch und im Körper diffus verteilt auftreten lä?xt. Die bevorzugte Expression von IFN-? konnte in jüngster Zeit bei MCS nachgewiesen werden. Von Bedeutung ist insbesondere die funktionsmodulierende Eigenschaft dieses Zytokins im Zentralen Nervensystems (ZNS), wodurch sich eine Veränderung der Informationsqualität und -quantität ergibt, die gegenüber der physiologischerweise zu erwartenden deutliche Abweichungen zeigt. Abhängig von den Einwirkungsorten innerhalb des ZNS ergeben sich sehr bunte Symptomprofile, die im allgemeinen einem psychosomatischen Krankheitsgeschehen zugeordnet werden. Die Arbeitsgruppe Bieger et al. konnte diesen Sachverhalt im Zusammenhang mit dem Auftreten von Multipler Chemikalien Sensitivität (MCS) nachweisen, die auch aufgrund umfangreicher psychischer und psychometrischer Untersuchungen nicht den psychisch bedingten bzw. somatoformen Erkrankungen zugerechnet werden kann. Erklärt wird durch diese starke IFN-?-Abgabe auch, warum es bei diesem Personenkreis häufiger als in der durchschnittlichen Bevölkerung zu Autoimmunprozessen kommt, wie es von zahlreichen Autoren auch beschrieben ist, da dieses Zytokin immunmodulierend diesen Reaktionsmechanismus fördert.
Inflammation
Zu wenig beachtet wurde bislang die Fremdstoff induzierte Unterhaltung chronischer Inflammation durch entzündungsförderliche Zytokine, wie es insbesondere auch bei chronischer Einwirkung von Lösemitteln beobachtet werden kann. Dies ist u.a. bei der Chronifizierung von Polyneuropathien (PNP) zu beachten, die allerdings ebenso durch autoimmune Reaktionen unterhalten werden können. Die immunologischen Daten deuten darauf hin, dass auch bei Expositionsstop beruflich erworbener Erkrankungen nicht mit einer Beendigung des Inflammationsmechanismus zu rechnen ist, da für die Perpetuierung des immunologischen Entzündungsprozess die geringen alltäglichen ubiquitär vorhandenen Mengen ausreichend sind. Die bisher von arbeitsmedizinischer und toxikologischer Seite getroffene Einschätzung, dass es nach Expositionsbeendigung zu einer restitutio at intregrum (Wiederherstellung) kommen müsse, kann nicht nur bei Beteiligung von allergischen, sondern generell bei der Auslösung von immunologischen Prozessen nicht begründet werden.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass bei chronischer Exposition gegenüber Fremdstoffen immunologische Pathomechamismen für die Krankheitseinwicklung entscheidender sind als toxikologische und arbeitsmedizinische Grenzwertvorstellungen. Wegen der in der Regel deutlich höheren Halbwertszeit der meisten Xenobiotika im Nervengewebe und der dadurch bedingten längeren Präsenz für das Immunsystem, spielt das immunologische Verhalten bei chronischer Exposition im Niedrigdosisbereich die entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Krankheiten. Sowohl für die Bewertung von Krankheitszusammenhängen als auch für die Gestaltung von Therapien werden die jüngsten Resultate entscheidende Bedeutung haben.
Für die Etablierung einer wirkungsvollen Prävention werden sie unerlä?xlich sein.
Literatur beim Verfasser.
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Dr. med. Kurt E. Müller
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